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“Inklusion beginnt im Kopf”: Wie wir Barrieren abbauen und Inklusion am Arbeitsplatz möglich machen

02.12.2025
Das Bild ist auf einem leeren Feld aufgenommen. Eine Frau mit einer Behinderung sitzt auf einem Pluggerät, während zwei schwarze Männer neben ihr hergehen. Das Wetter ist sonnig, der Himmel blau.
  • Inklusion im Beruf

Anlässlich des Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember sprechen wir mit Iram Bahawal, Expertin für Inclusive Employment bei Licht für die Welt, über die verschiedenen Facetten von Inklusion am Arbeitsplatz . Sie sagt, obwohl wir vor allem strukturelle Veränderung brauchen, beginnen Barrieren schon viel früher: in unseren Vorstellungen.

Wer einer Arbeit nachgeht, hat nicht nur einen strukturierten Alltag und geregelten Lebensunterhalt. Ein Beruf öffnet Türen, lässt Menschen Teil der Gesellschaft sein und bringt vor allem Selbstbestimmung. Obwohl weltweit jede sechste Person mit einer Behinderung lebt, sind rund 80 Prozent der Menschen mit Behinderungen gar nicht oder unterbeschäftigt – und von diesem wichtigen Teil des Lebens ausgeschlossen.

Der Grund dafür liegt selten in mangelnden Kompetenzen. Viel häufiger liege es an Strukturen, Vorurteilen und fehlender Sichtbarkeit, sagt Iram Bahawal, Expertin für Inclusive Employment bei Licht für die Welt.

Es sind nicht die Menschen, die scheitern – es ist das System, das sie im Stich lässt.

Iram Bahawal setzt sich dafür ein, dass alle Menschen ihren rechtmäßigen Platz in der Arbeitswelt finden. Sie weiß, die Reise zu einer inklusiven Arbeitswelt bringt Freude und zahlt sich aus – für alle.

Dennoch haben wir noch einen langen Weg vor uns, sowohl global gesehen, als auch in Afrika. Vor Ort verstärken sich Armut, unzugängliche Infrastruktur, fehlende Gesundheitsversorgung und Bildungslücken gegenseitig.

Die erste Hürde: Zugang zu Bildung

Dass Menschen mit Behinderungen ausgeschlossen werden, beginnt schon lange vor der tatsächlichen Job-Absage, nämlich beim barrierefreien Zugang zu Bildung. „Nur rund ein Prozent der Menschen mit Behinderungen in Afrika schafft den Übergang in höhere Lerninstitutionen“, erklärt Iram Bahawal.

Das bedeutet: Die Meisten verlassen das System, bevor sie überhaupt die Chance bekommen, beruflich Fuß zu fassen – oder waren nie Teil davon. Wenn es tatsächlich an eine Anstellung geht, wird die Mehrheit der Menschen mit Behinderungen im informellen Sektor oder in einfachen handwerklichen Tätigkeiten beschäftigt, weil der Zugang zu formaler Bildung erschwert ist.

Ein Junge mit schwarzer Hautfarbe sitzt im Rollstuhl und zeigt eine Zeichnung in die Kamera. Er hat ein breites Grinsen im Gesicht. Um ihn herum stehen seine Klassenkollegen.
Die 14-jährige Nyamani aus dem Südsudan entwickelte als kleines Mädchen infolge einer Krankheit Zelebralparese. Sie konnte dank Licht für die Welt eingeschult werden. © Nema Juma/Licht für die Welt

Schulen selbst sind ein Teil des Problems: fehlende Barrierefreiheit, unzureichend geschultes Personal und Prüfungsformate, die ganze Gruppen systematisch ausschließen. Ein Beispiel: gehörlose Schüler*innen, die Prüfungen in Lautsprache oder nicht barrierefreiem Englisch ablegen müssen.

Wenn Arbeitgeber vor allem Aufwand sehen

Die größte Herausforderung liegt allerdings nicht im Willen, sondern im fehlenden Wissen. Viele Arbeitgeber gehen zunächst davon aus, dass Menschen mit Behinderungen weniger leisten könnten oder dass Barrierefreiheit zu teuer werde:

Viele Arbeitgeber denken: Es ist teuer, mein Arbeitsplatz ist nicht barrierefrei, sie können den Job nicht machen. Dieses Mindset zu ändern, ist eine Reise.

Manche Unternehmen brauchen Jahre, um den ersten Schritt zu gehen. Doch der Wendepunkt kommt oft schnell: Sobald die erste Person mit Behinderung eingestellt wird, verschiebt sich die Perspektive. Der schwierigste Schritt zur Veränderung ist der erste. 

Der Aha-Moment: Inklusion lohnt sich auf vielen Ebenen

Innovation ist einer der unterschätzten Vorteile inklusiver Teams. „Menschen mit Behinderungen bringen Innovation hervor – weil sie Herausforderungen aus erster Hand erleben. Oft finden sie kreative, unkonventionelle Lösungswege und schöpfen dabei aus ihren einzigartigen Perspektiven und Erfahrungen“, sagt Bahawal. Unternehmen profitieren davon: Produkte und Dienstleistungen werden

  1. zugänglicher,
  2. nutzerfreundlicher und
  3. erreichen neue Zielgruppen.

Außerdem werden die Befürchtungen bezüglich Anpassungskosten häufig entkräftet. Viele Behinderungsformen benötigen überhaupt keine baulichen Veränderungen. Arbeitgeber überschätzen den Aufwand – und unterschätzen das Potenzial.

Iram Bahawal fordert Unternehmen dazu auf, immer wieder über den eigenen Tellerrand zu blicken. Beispielsweise können sich Unternehmen folgende Frage stellen: Kann ich als Arbeitgeber nicht nur direkt, sondern auch indirekt Einfluss auf Inklusion am Arbeitsplatz nehmen? Zum Beispiel, wenn ein Unternehmen die Reinigung der Räumlichkeiten auslagert, könnte im Vertrag stehen, dass fünf Prozent des Reinigungspersonals Menschen mit Behinderungen sein sollten. Dasselbe gilt für Lieferanten oder Händler.

Ein inklusives Arbeitsumfeld bringt Freude für alle. © Romé moov/Licht für die Welt

Iram Bahawal erklärt: „Organisationen haben die Macht, Einfluss auszuüben – es geht darum, sie zu erkennen und zu nutzen. Genau darin besteht auch ein Teil unserer Arbeit bei Licht für die Welt: Wir sensibilisieren den öffentlichen und privaten Sektor für Inklusion im gesamten Ökosystem, um wirtschaftliche Teilhabe zu stärken.”

Unsichtbare Barrieren: Mobilität und Transport

Neben den herrschenden Vorurteilen ist es auch die Infrastruktur, die den Zugang erschwert. Selbst wenn der Arbeitsplatz offensteht, bleibt der Weg dorthin für viele nahezu unüberwindbar. Öffentliche Verkehrssysteme in vielen afrikanischen Ländern sind nicht barrierefrei. Die Zusatzkosten für Betroffene sind enorm.

Für eine Person mit Behinderung kostet es viel mehr Zeit und Geld, von A nach B zu kommen. Unsere öffentlichen Verkehrssysteme sind nicht vorbereitet.

Unzugängliche Busse, kaputte Gehwege, unebene Straßen und informelle Siedlungen machen Mobilität zu einer täglichen Herausforderung. Viele hochqualifizierte Menschen scheitern nicht an ihrer Arbeit – sie werden durch die Hürden ausgebremst, die ihnen schon auf dem Weg dorthin begegnen.

Alle Gruppen sichtbar machen

Ein weiteres Missverständnis: Behinderungen werden oft als einheitliche Kategorie verstanden. „Viele glauben, alle Behinderungen seien gleich. Die Bedürfnisse sind aber sehr unterschiedlich – und oft viel einfacher umzusetzen, als Arbeitgeber denken“, erklärt Iram Bahawal.

Oft denken Unternehmen nur an Rollstuhlnutzer*innen oder an sichtbare Behinderungen wie Albinismus. Menschen mit Autismus, ADHS, Down-Syndrom oder Zelebralparese bleiben unsichtbar – und werden nicht einmal mitgedacht.

Die Szene auf dem Foto spielt in einem Gebäude in Mosambik. Es ist ein Lehrer mit schwarzer Hautfarbe zu sehen, der einem Mädchen mit Albinismus etwas in einem Schulheft zeigt.
Joanna wurde mit Albinismus geboren und kann dank Unterstützung normal zur Schule gehen und für ihre Zukunft lernen. © Ulrich Eigner/Licht für die Welt

Frauen mit Behinderungen sind doppelt ausgeschlossen

Frauen mit Behinderungen erleben nicht nur Barrieren aufgrund ihrer Behinderung, sondern auch aufgrund ihres Geschlechts. Sie haben weniger Zugang zu Bildung, weniger berufliche Möglichkeiten und weniger gesellschaftliche Stimme.

Geschlecht und Behinderung überschneiden sich und schaffen ganz eigene Hürden. Frauen mit Behinderungen müssen oft sehr viel mehr überwinden, nur um überhaupt an den Start zu kommen.

Diese doppelte Marginalisierung führt dazu, dass gerade Frauen mit Behinderungen besonders selten auf dem Arbeitsmarkt ankommen – obwohl viele von ihnen hochqualifiziert und enorm motiviert sind.

Was sich ändern muss: Ein System, das Potenziale erkennt

Inklusion am Arbeitsmarkt ist kein HR-Projekt – es ist ein gesellschaftlicher Wandel. Dazu braucht es inklusive Bildung, politische Rahmenbedingungen, Arbeitgebernetzwerke und vor allem Sichtbarkeit. Aber auch das Engagement und die Offenheit der einzelnen Personen sind gefragt.

Neue Initiativen versuchen genau hier anzusetzen: Sie bringen Arbeitgeber dazu, öffentlich über ihre inklusiven Strategien zu sprechen, und zeigen junge Menschen mit Behinderungen als Role Models in der Arbeitswelt. Unternehmen sollten nicht nur auf akademische Abschlüsse achten, sondern Menschen mit Behinderungen die Chance geben, on the job zu lernen.

Darauf zielt auch die neue digitale Kampagne der Intitiative We Can Work ab. Unter dem Motto “Play the full deck” (Deutsch: Spiele das gesamte Deck/mit allen Karten) wird die Vielfalt am Arbeitsplatz mithilfe von 13 Arbeits-Archetypen gefeiert. Durch ein Quiz können Interessierte herausfinden, welches ihre ganz eigene “Superpower” am Arbeitsplatz ist.

“Play the full deck” soll einen Wandel in der Wahrnehmung von Behinderung am Arbeitsplatz anstoßen und den Wert, das Talent und die Perspektiven aufzeigen, die Menschen mit Behinderung in professionelle Teams einbringen.

Eine neue Geschichte von Fähigkeiten

Inklusion am Arbeitsplatz bedeutet nicht, Menschen „trotz“ ihrer Behinderung einzustellen. Es bedeutet, ihre Fähigkeiten zu sehen – und zu erkennen, welchen Mehrwert Vielfalt tatsächlich schafft.

Wir brauchen Arbeitgeber, die Inklusion wirklich leben und aktiv Menschen mit Behinderungen einstellen.

Vielleicht beginnt echter Fortschritt genau hier: bei der Entscheidung, Potenzial zu sehen statt Defiziteund Arbeitsplätze zu schaffen, in denen jede Fähigkeit zählt.